Inflation-Warum tut die EZB nichts?

Man hätte sich nicht wirklich wundern dürfen, wenn der Aktienmarkt einen Luftsprung gemacht hätte, nachdem die EZB vergangenen Donnerstag schon wieder die Hände im Schoß liegen ließ. Dass die Anleger dann doch eher verhalten reagierten, könnte daran liegen, dass immer mehr den Eindruck gewinnen, dass ein Ende mit Schrecken für die Aktienmarkt-Bullen mittelfristig weniger problematisch sein könnte als ein Schrecken ohne Ende.
(Quelle: LYNX Broker)

Man habe vor, im vierten Quartal etwas weniger Anleihen über das PEPP-Programm (Pandemic Emergency Purchase Program) zu kaufen als bislang, verkündete die EZB und ließ es damit gut sein. Die „APP“-Käufe (Asset Purchase Program), auf welche die PEPP-Käufe oben draufgesetzt wurden, bleiben derweil unverändert. Die Zahl derer, die davon ausgingen, dass die EZB bei dieser ersten Sitzung nach der Sommerpause nicht mehr umhin kommen würde, den Geldhahn zumindest langsam zuzudrehen, rieben sich da wohl die Augen. Das war’s schon?

Der Aktienmarkt reagierte verdächtig moderat

Ja, das war’s. Und die Begründung für diese kosmetische Maßnahme einer nicht einmal von der Größenordnung her bezifferten Reduzierung der PEPP-Käufe war ebenso problematisch, wenn auch nicht wirklich überraschend: Das Wachstum habe sich mittlerweile ausreichend stabilisiert und die Impfungen seien so weit vorangeschritten, dass man da eben jetzt ein bisschen weniger tun müsse.

Von Inflation kein Wort in Bezug auf diese Maßnahme. Die sehe man weiterhin als nur vorübergehend an, so EZB-Chefin Christine Lagarde bei der Pressekonferenz am Donnerstagnachmittag und zückte die neuesten Projektionen für die Inflation in der Eurozone: +2,2 Prozent am Ende dieses Jahres, +1,7 Prozent Ende 2022, +1,5 Prozent Ende 2023. Alles also kein Problem, immerhin strebe die EZB ja mit ihrer mittlerweile noch schwammiger formulierten Zielsetzung eine Inflation an, die mittelfristig irgendwo über zwei Prozent liegt.

Die europäischen Indizes, die im Vorfeld der EZB-Entscheidung schon mal den Kopf eingezogen hatten, streckten diesen daraufhin zwar wieder aus der Deckung. Aber statt einer wilden Kaufwelle als Reaktion auf die versteckte Versicherung, dass man weiterhin Liquidität im Überfluss erwarten dürfe, ging es eher moderat aufwärts.

So langsam scheinen mehr und mehr Marktteilnehmer an der Börse aktuell den Eindruck zu gewinnen, dass diese Arbeitsverweigerung der EZB hinsichtlich ihres Basismandats der Preisstabilität mittelfristig übel ausgehen könnte und erkennen die Sackgasse, in die sich die EZB, aber auch die US-Notenbank und andere große Notenbanken, zusammen mit der Politik schon vor vielen Jahren hinein manövriert haben.

Die Anleihekäufe bringen beileibe nicht nur Vorteile

Dass man sich in keiner Weise selbst vom Weg abbringt, wenn man die Anleihekäufe jetzt ein klein wenig zurückfährt, kann man sich seitens der Investoren denken. Zumal sie nicht gerade umwerfend viel bringen – ausgenommen, über Umwege, dem Aktienmarkt.

Das Volumen ist derart gigantisch (das PEPP-Programm hat ein beschlossenes Gesamtvolumen von 1,85 Billionen Euro), dass die Refinanzierung der Staaten und Unternehmen zwar dadurch zu niedrigsten bzw. negativen Zinsen gesichert wäre. Aber da das Wachstum so stark gar nicht ist, führen diese Programme dazu, dass man sich nicht mehr bei Investoren Geld leiht, sondern vor allem bei der EZB. Was eine absurde, gefährliche Situation erzeugt, denn damit wird zum Schuldner, der die Schulden steuern und nötigenfalls auch einfach abschreiben kann.

Doch obwohl man damit beinahe ungehemmt agieren könnte, hat die Intensität dieser Anleihekäufe dazu geführt, dass die Europäische Zentralbank – laut eines Kommentars der Volkswirte von Nomura auf die EZB-Sitzung – selbst dann 85 Prozent des verfügbaren Angebots an Anleihen „wegkaufen“ würde, wenn sie die PEPP-Käufe von derzeit im Schnitt 80 auf 60 Milliarden Euro pro Monat herunterfahren würde.

Auch in den USA ist das ein Problem, weshalb die US-Banken derzeit um eine Billion US-Dollar über Reverse Repo-Kredite bei der US-Notenbank parken – man erstickt in Geld, das man nicht unmittelbar einsetzen kann.

Dadurch werden Anleihen zur Mangelware. Nicht tragisch, könnte man denken: Bei den derzeitigen Negativzinsen, mit denen sich jetzt halt die EZB herumschlagen muss, will die ja keiner haben. Aber ganz so ist es nicht, die Nachfrage ist durchaus da … und Anleihen werden, ob in den USA oder in Europa, langsam zu knapp. Zum Vorteil des Aktienmarkts, denn einiges an Kapital, das ansonsten in Anleihen gewandert wäre, landet so dort. Der dadurch aber nicht stabiler wird. Beispiel:

Am Donnerstagabend sorgte die Auktion einer 30 Jahre laufenden US-Staatsanleihe binnen weniger Minuten für einen Einbruch des Dow Jones um 150 Punkte. Grund: Die Nachfrage nach der Anleihe war überraschend hoch. Das sorgte auch in anderen Laufzeiten für Käufe, weil die Akteure am US-Bondmarkt dadurch einmal mehr erkannten: Anleihen sind knapp … und wenn die Notenbanken nicht wollen, dass der Kapitalmarkt komplett aus dem Gleichgewicht gerät, müssen sie ihr Kaufvolumen zurückfahren. Und zwar zügig. Was wiederum aber Geld aus dem Aktienmarkt saugen würde, daher diese negative Reaktion der US-Aktienindizes.

Anders sieht es in der Eurozone auch nicht aus. Und zugleich zeigt das reichlich magere Wachstum der letzten Quartale, dass der erhoffte „Booster“, den man sich durch billigstes, reichlich verfügbares Geld für Investitionen erhoffte, nicht gekommen ist. So gesehen kann man durchaus diskutieren, ob diese Anleihekäufe mit der Brechstange nicht womöglich mehr schaden als nützen. Aber warum kommt die EZB dann nur mit einer derart mickrigen, kosmetischen Entscheidung daher, die dieses Problem so gut wie gar nicht löst?

Die Angst vor der Reaktion am Aktienmarkt

Das hat gleich mehrere Gründe. Zum einen weiß man natürlich im EZB-Rat, dass ein haussierender Aktienmarkt den Konsum stützt. Denn je mehr Menschen mit ihrem Ersparten an der Börse aktuell Gewinne machen, desto eher neigen sie dazu, Anschaffungen zu tätigen, weil sie glauben, es sich leisten zu können. Aber das hat Haken … und nicht nur einen.

Erstens steigt zugleich die Zahl derer, die sich immer weniger leisten können, weil die Lebenshaltungskosten, vor allem die Mieten, immer weiter steigen. Was diese Menschen weniger konsumieren können, sollen/müssen die, die sich vermögend wähnen, kompensieren.

Zweitens sitzen die Anleger ja immer nur auf Buchgewinnen. Erst, wenn die Aktien verkauft und das Geld wieder auf dem Konto ist, ist ein Gewinn wirklich sicher. Und würden zu viele aussteigen, würde dieses für den Konsum hilfreiche Umfeld in sich zusammenbrechen. Da kann es allemal schon reichen, wenn die EZB am Anleihemarkt wieder Luft lässt, Geld von Aktien zurück in Anleihen wandert, um die Hausse zu destabilisieren und dadurch eine Verkaufslawine auszulösen. Also traut man sich nicht, diesen Schritt zu tun.

Und was ist mit der Inflation?

Dass die EZB derzeit gut damit zu tun hat, sich um Konsequenzen herum zu winden, sieht man auch an den Aussagen zum Wachstum. Das sei, so die EZB, zwar gut, aber dann doch wieder nicht so gut, dass man die Anleihekäufe zurückfahren könne, von veränderten Leitzinsen natürlich ganz zu schweigen. Begründet wird das aber nicht mit der Inflation, sondern mit der Delta-Variante des COVID 19-Virus und den Lieferengpässen der Weltwirtschaft. Wobei letztere mit entscheidend für die explodierenden Erzeugerpreise sind, die eher über kurz als über lang noch mehr Auftrieb bei den Verbraucherpreisen auslösen werden. Nur ist das eben ein Thema, das man zurechtbiegen muss, denn:

Auch, wenn die EZB natürlich weiß, dass die derzeitige Situation, die von Materialmangel und knappen Transportkapazitäten geprägt ist, schon jetzt zu immens gestiegenen Erzeugerpreisen geführt hat und die Unternehmen (zuletzt von einer ifo-Umfrage unter deutschen Firmen bestätigt), diese gestiegenen Kosten an die Verbraucher weitergeben werden, tut sie so, als würde die Inflation einfach von allein verschwinden. Und nicht nur das:

Die am Donnerstag vorgestellten, neuen Projektionen der EZB weisen je, wie oben erwähnt, eine bis 2023 wieder fallende Inflation aus. Das hieße, die Inflation wäre sogar zu niedrig! Immerhin liegt das Ziel ja bei schwammig formulierten, mittelfristigen zwei Prozent oder etwas darüber. Wobei man schon ganz bewusst offen lässt, was „mittelfristig“ und „etwas darüber“ genau bedeuten soll.

So hätte man ein Argument, die Leitzinsen auf Dauer bei null zu belassen und auch die Anleihemarkt-Renditen weiter zu drücken, denn was genau der Level von „Geldwertstabilität“ ist, welche die EZB sicherzustellen hat, kann sie nun einmal selbst definieren.

Auf diese Weise ließe sich die Lösung des Problems, dass Schulden nur durch immer noch mehr Schulden abbezahlt werden und das Wachstum, so mager es ohnehin ist, nicht organisch, sondern künstlich erzeugt ist, noch eine Zeitlang hinausschieben. Nicht, weil man den Aufwand scheut, es zu lösen. Sondern weil es keine Lösung gibt.

Die Anfänge des Problems reichen Jahrzehnte zurück

Über viele Jahre hinweg wurde die Schuldenblase immer weiter aufgebläht, ermöglicht durch immer billigere Kredite. Denn schon seit langer Zeit wäre ein effektiver Abbau der Verschuldung nicht mehr möglich, ohne dieses Kartenhaus zusammenbrechen zu lassen. Unternehmen, Privathaushalte, letzten Endes aber auch Regierungen würden schon in die Bredouille kommen, wenn die Leitzinsen in der Eurozone auch nur von 0,0 auf 1,0 Prozent steigen würden. Was auch ein Grund war, wieso die EZB ihre Leitzinsen in den Jahren 2016 bis 2018 nicht anhob, als die US-Notenbank genau das tat, um wieder Spielraum in ihrer Geldpolitik zu erhalten. Man hatte damals keinen Spielraum, heute hat man ihn erst recht nicht.

Natürlich ist der EZB völlig klar, dass ihre „Projektionen“ in Sachen Inflation der kommenden Jahre nicht das Papier wert sind, auf denen sie gedruckt wurden. Denn niemand kann heute sagen, wo die Teuerungsrate der gesamten Eurozone an Silvester 2023 liegen wird. Der Verbraucher ist keine berechenbare Größe. Und die Preisentwicklung ist ja nicht nur von ihm abhängig. Alleine der Umstand, dass die Rohstoffpreise stark von der Spekulation beeinflusst werden, macht Projektionen unmöglich. Immerhin hatte die EZB vor einem Jahr auch noch keine Ahnung davon, dass die Preise überhaupt so deutlich anziehen würden: Noch im Dezember 2020 ging man von einer 2021er-Inflation von 1,0 Prozent aus!

Stagflation … ein Grund, warum die Anleger langsam kalte Füße kriegen

Bislang hatte man am Aktienmarkt kein Problem damit, unbesehen zu glauben, was die EZB und die „Fed“, die US-Notenbank, nahezu unisono von sich gaben: Das Wachstum ist stark, die Inflation geht von alleine wieder weg und ihr behaltet euer billiges Geld im Überfluss, weil wir, die Notenbanken, schon Argumente finden werden, um es euch weiterhin zu sichern. Dass man die bisherigen Inflationsziele aufweichte, um so von einer für alle nachprüfbaren „Eingreif-Schwelle“ von zwei Prozent wegzukommen, bestätigte vor allem diejenigen in Industrie, privatem Sektor und Finanzwelt, die diese niedrigen Zinsen massiv ausnutzten, in ihrem Glauben: Alles bleibt, wie es ist.

Aber momentan taucht ein Schatten am Horizont auf, der für absolut alles in der Weltwirtschaft fatal wäre: Stagflation. Dieser Begriff bezeichnet eine Situation, in der trotz geringem oder gar nicht mehr vorhandenem Wachstum die Preise deutlich steigen.

Dieses Szenario ist an sich schon erschreckend. In Verbindung mit dieser gewaltigen, durch das „Dauer-Pressing“ der Notenbanken immer weiter wachsenden Schuldenblase wäre das indes vernichtend. Man muss sich vorstellen, was dann passieren würde:

Weiter steigende Preise drücken auf die Unternehmensgewinne. Die Unternehmen versuchen, die Kosten auf die Verbraucher abzuwälzen, was aber nur geht, wenn man dort noch mehr auf Kredit konsumiert oder die Löhne steigen.

Höhere Löhne würden die Unternehmensgewinne aber erneut drücken. Und noch mehr Kredite in einem künstlich generierten Wachstumsumfeld würden die Kreditausfallrate schlagartig steigern. Und mit der dann in Turbulenzen geratenen Finanzindustrie würden wie schon 2008 die Probleme erst anfangen. Hypotheken würden platzen, die Arbeitslosenrate würde nach oben schießen, weil die Unternehmen auf die steigenden Kosten wie immer mit Entlassungen reagieren werden. Die Rezessionsspirale wäre losgetreten und würde durch das Platzen der Kreditblase noch beschleunigt. Im Prinzip ein Szenario wie 2008, mit einem Unterschied:

Diesmal würde der Effekt eines daraufhin wegbrechenden Aktienmarkts noch brutaler wirken, weil noch mehr Menschen noch viel mehr Geld dort hineingesteckt haben und der Anteil an Derivaten und auf Kredit laufenden Spekulationen heute noch weit höher ist als damals. Dass ein solches Zusammenklappen des Kartenhauses relativ bald doch einen Rückgang der Inflation nach sich ziehen würde, ist zwar zu erwarten. Genau das passierte auch 2008 und sorgte dafür, dass die drohende Stagflation „nur“ zur heftigen Rezession wurde. Aber …

Ein „Ende mit Schrecken“ wäre besser – aber das wird wohl nicht passieren.

… damals beseitigte man das Problem mit der Flutung der Wirtschaft mit Billionen. Das tut man aber gerade schon.

Es ist daher absolut nachvollziehbar, dass mehr und mehr Marktteilnehmer an der Börse aktuell diese Strategie der Notenbanken, die letztlich nur ein hilfloses Zuhalten von immer mehr Lecks ist, mit großer Sorge verfolgen. Würde man wenigstens dieses wilde Wegkaufen am Anleihemarkt einstellen und hinnehmen, dass diese „Billiges Geld-Hausse“ am Aktienmarkt unsanft endet, wäre es noch möglich, den Markt zu konsolidieren.

Wenn Leichtsinn und Gier in Aktienmarkt und Wirtschaft durch eine konsequente Notenbankpolitik heruntergefahren würde, hätte man eine Chance, in engem Zusammenwirken mit der Politik eine langwierige, aber für die kommenden Generationen zwingend nötige Konsolidierung zu erreichen, die Sparen wieder erstrebenswert macht und eine auf stabilen Füßen stehende Weltwirtschaft schafft, in der dann zwar kleinere, aber gehaltvollere Brötchen gebacken werden.

Aber wer einmal begonnen hat, sich um die Realität herum zu lavieren, weil man ein Ende mit Schrecken scheut … wer zudem nicht darauf hoffen kann, dass ein „enges Zusammenwirken mit der Politik“ mehr sein könnte als wirre Phantasie … wird seinen Kurs nicht ändern. Weder bei der EZB noch bei der „Fed“. Das Risiko, dass uns das einen Schrecken ohne Ende einbrockt, weil es eben ein großer Unterschied ist, ob man eine Schieflage konsequent und unter harten Einschnitten angeht oder ob man auf Zeit spielt in der Hoffnung, dass ein Zusammenbruch irgendwie, wie auch immer, doch zu vermeiden ist, ist nicht zu unterschätzen.

Fazit: Am Ende lacht die Vernunft

Da bleibt nur, als Fazit zu betonen: Halten Sie sich heute mehr denn je ohne Wenn und Aber an die Grundregeln des Investierens:

Streuen Sie Ihre Investments. Agieren Sie nie ohne Stoppkurse, bei aggressiven Positionen sollten es automatisch greifende Stop Loss-Verkaufsorders sein. Spekulieren Sie niemals mit Geld, das Sie in absehbarer Zeit brauchen … und erst Recht nicht auf Kredit ohne Sicherheiten.

Diejenigen, die all diese Grundregeln derzeit in den Wind schießen, mögen heute noch lachen. Aber es wäre das erste Mal in der Geschichte der Börsen, dass am Ende nicht doch diejenigen lachen, die auf dem Teppich geblieben sind!

Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Börsenwoche!

Ihr

Ronald Gehrt

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